KLASSEnSÄTZE-Sieger 2017 in der Altersgruppe 10. Klasse und Oberstufe:


Anton Georgi Rösler von der Stadtteilschule Blankenese (Klasse 11d) mit dem Text „Leben“

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Der siegreiche Text von Anton Georgi Rösler erschien am 27. Mai 2017 im Hamburger Abendblatt. Laden Sie ihn sich hier als PDF herunter.
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Eines Morgens wache ich auf einer Wiese auf. Ich liege auf saftigem, kräftigem, grünen Gras, die Morgensonne verwandelt die Landschaft und den Himmel mit ihren intensiven rot-orange Tönen in ein wunderschönes Gemälde. Wind weht mir sanft um die Ohren. Einen solch magischen Moment bin ich beim Aufwachen nicht gewohnt. Obwohl ich nicht angezogen bin, ist mir warm, was mich erst wundert. Sogleich merke ich jedoch, dass ich Fell habe. Weißes Fell mit schwarzen Flecken. Ich bin in ein Kalb verwandelt. Und ich liege mit vielen anderen Kälbern auf der Weide.

 

Nachdem ich die morgendliche Idylle, die gute und frische Luft genossen habe, höre ich von der Ferne ein Geräusch herannahen. Ich bemerke, dass sich ein Lastwagen nähert. Nach einiger Zeit werden alle Kälber von der Wiese unsanft und hektisch in den Lastwagenanhänger gedrängt, was die Romantik meines tollen Morgens abrupt zerstört und beendet. Auf der Ladefläche ist es sehr eng. Als der Wagen seine Fahrt aufnimmt, werden wir alle hin und her gedrückt; mir ist unwohl. Nach einer langen Fahrt spüre ich Hunger und Durst, den anderen ergeht es wohl ähnlich. Irgendwann, das alles dauerte eine halbe Ewigkeit, merke ich, dass der Lastzug endgültig zum Stehen gekommen ist und jemand lieblos die große Klappe des Anhängers mit einem unangenehmen, quietschenden Geräusch aufreißt und uns letztlich wieder hinaustreibt. Als ich merke, wo wir angekommen sind, wird mir sehr unwohl, ich will das nicht wahr haben. Wir werden nämlich in den Eingang von einer Schlachthalle gezwängt, von Menschen, die sich gefühllos zeigen, die von außen keine Miene verziehen, innerlich kalt sind. Sie haben keine Seele. Sie sind wie Maschinen. Ich bekomme riesige Angst und will nur noch weg. Auch die anderen Kälber werden nervös und unruhig. Wir kommen in einen dunklen Gang, eine Lampe leuchtet uns schwach den Weg bis zu seinem Ende, ins Ungewisse. Das Gedränge geht weiter, langsam habe ich den gesamten Korridor durchquert und kann erkennen, dass er in eine Kammer führt. Dort werden die Kälber einzeln hereingeführt. Als ich auf sie zugehe, kommt mir ein unvorstellbar ekelhafter Gestank entgegen. Schließlich trete ich ein und bemerke, dass sich überall Blut auf dem Boden befindet. Fleischabschnitte von meinen Kameraden hängen an riesigen Fleischerhaken von der Decke.

 

Mir war klar, dass mein letzter Moment gekommen war. Ich fühlte mich wie in einem Bild von Francis Bacon. Jetzt erinnerte ich mich noch einmal an den Morgen des Tages, mit dem idyllischen, gemäldehaften Sonnenaufgang und der wunderbaren Luft, an das Gefühl von Freiheit.

 

Plötzlich packen mich zwei kräftige Männer, der eine hält mir ein Bolzenschussgerät an meine Stirn. Es sind die Wiese und das saftige Gras, die noch einmal vor mir aufgetaucht sind. Ich schließe meine Augen, er löst es aus, alles wird dunkel.